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Extrait

Quinn

Während ich leise auf das Bett zurollte, schaute ich aus dem Fenster, wo die Bäume gerade ausnahmsweise mal so aussahen, wie sie aussehen mussten: wie Bäume. Seltsam war allerdings, dass ich sie ganz deutlich erkennen konnte, jedes Astloch, sogar die Maserung der Rinde, jedes Detail, so als ob das Fenster plötzlich mit Lupenglas ausgestattet worden sei. Das war doppelt seltsam, weil es draußen stockdunkel war. Jetzt erst fiel mir auf, dass ich mich auch im Flur und im Bad völlig problemlos zurechtgefunden hatte, ohne das Licht einzuschalten.

Meine optimistische Stimmung verflog schlagartig. Was passierte denn jetzt schon wieder? Konnte man Supersehkräfte halluzinieren? Oder träumte ich das gerade nur? Ich zwickte mich sicherheitshalber fest in den Arm. Es tat weh. Statt ans Bett rollte ich mit dem Schreibtischstuhl zum Fenster und schaute an den Bäumen vorbei hinaus auf den Friedhof. Und da stand er. Der Mann mit dem Hut, der in der Unfallnacht den Wolf und den Riesenvogel auf mich und das blauhaarige Mädchen gehetzt hat. Eigentlich hätte ich ihn gar nicht sehen dürfen, er stand viel zu weit weg, und es war zu dunkel, um mehr als vage Konturen erkennen zu können, wenn überhaupt. Und doch erkannte ich alle Falten seines Trenchcoats, die Form der Knöpfe, das braun-beige Karomuster des Opahutes und jede Einzelheit seines Gesichts bis auf die allerletzte Bartstoppel.

Er stand ganz still auf dem Weg und starrte zu meinem Fenster hinauf. Seine Augen waren gelb wie die Augen eines Raubvogels. Oder wie die des Wolfs, der an jenem Abend zwischen den Büschen auf mich gewartet hatte. Ich war sicher, dass er mich in diesem Moment genauso scharf erkennen konnte wie ich ihn, denn seine Lippen verzogen sich zu einem unangenehmen Lächeln.

Mein Mund wurde schlagartig ganz trocken.

Der Mann trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf den Grabstein hinter sich frei. Mit einer ironisch angedeuteten Verbeugung machte er eine Handbewegung, als wolle er mich dazu einladen, die Inschrift zu lesen. Was für meine Adleraugen kein Problem war. »Deine Tage sind gezählt« stand da in Granit gemeißelt.

Die Miene des Mannes ließ keinen Zweifel daran, dass er mir diesen Satz mit Absicht präsentierte und dass ich ihn als Drohung zu verstehen hatte. Ich erinnerte mich noch an seine komische schnarrende Stimme und konnte mir genau vorstellen, wie es klingen würde, es direkt aus seinem Mund zu hören: Deine Tage sind gezählt, Bürschchen. Als ob er sich nun vergewissert hatte, dass die Botschaft angekommen war, verbeugte er sich noch einmal und schlenderte langsam über den Friedhof davon.

Nur mit Mühe konnte ich den Impuls unterdrücken, auf die blöde Tischglocke zu hauen, um meine Eltern zu wecken. »Mama! Papa! Der böse Hutmann ist auf dem Friedhof, und er weiß, wo ich wohne!« Mein Puls raste, und es dauerte ein paar Minuten, bis ich mich wieder so weit im Griff hatte, dass ich zurück zum Bett rollen und mich hineinlegen konnte. Glöckchen spazierte vom Fußende herbei und legte sich auf meine Brust, mechanisch begann ich, sie zu streicheln. Das und ihr lautes Schnurren beruhigten mich zunehmend, und nach einer Weile konnte ich sogar noch einmal einschlafen.

Am nächsten Morgen waren meine Supersehkräfte verschwunden, und obwohl Tageslicht herrschte, war es mir nicht mehr möglich, die Inschrift auf dem Grabstein vom Fenster aus zu entziffern. Ich konnte nicht mal sehen, ob da überhaupt etwas geschrieben stand. Deshalb hatte ich Lasse (der unangekündigt vorbeigekommen war, um dann überwiegend stumm in meinem Zimmer rumzusitzen, an seinen Fingern herumzukneten und mich mit ängstlichen Bambi-Blicken anzusehen) gebeten, den Grabstein für mich abzufotografieren, bevor er wieder nach Hause ging. Es handelte sich um das Grab eines gewissen Hermann Kranz, der 1952 gestorben war. Und die Grabinschrift lautete – welche Überraschung! – »Deine Tage sind gezählt«.

Ich war fast ein bisschen erleichtert gewesen. Klar, das war gruselig und angsteinflößend, aber für mich war es auch der Beweis, den ich dringend gebraucht hatte, der Beweis dafür, dass ich nicht verrückt war. Denn wie bitte sollte man das mit wahnhaften Vorstellungen oder Schizophrenie erklären? Nein, hier ging eindeutig etwas anderes vor sich, etwas äußerst Merkwürdiges. Wenn Hutmann seine Drohung wahrmachte und meine Tage wirklich gezählt waren, dann wollte ich in denen, die mir noch blieben, wenigstens so viel darüber herausfinden wie irgend möglich.

Und wenn mir Lasse, die alte Petze, die sofort zu meiner Mutter laufen musste, nicht dabei helfen konnte, dann würde es eben dieses Martin-Mädchen tun müssen. Grübchenface Matilda mit dem sympathischen Helferkomplex.

Ich griff nach meinen Scheißkrücken – der politisch korrekte Ausdruck dafür war übrigens »Unterarmgehhilfe«, hatte ich von Severin in einer meiner ersten Physiostunden gelernt – und stand auf. Wie immer wurde mir schwindelig, und ich musste ein paar Sekunden warten, bis das Zimmer aufhörte, sich um mich herum zu drehen. Die sich mitdrehenden Baumgesichter vor dem Fenster ignorierte ich geflissentlich.

»Ich würde mir das Mausoleum, von dem du gesprochen hast, gern mal anschauen«, sagte ich. Irgendwo musste ich ja anfangen. »Kannst du mich da mit dem Rollstuhl hinfahren?« »Jetzt sofort?«, fragte Matilda. »Ja. Außer, du musst zu einer Prozession oder zum Kommunionsunterricht oder was du sonst so Frommes in deiner Freizeit machst.« Sie seufzte. »Nein, heute findet ausnahmsweise keine Prozession statt. Und der Kurs Wasser weihen für Anfänger ist erst heute Abend.«

Sieh an, sie hatte offenbar Humor. »Na, dann los.« Entschlossen wankte ich an ihr vorbei durch den Flur. Papa hatte in der Reha ganz stolz Videos von meinen ersten Gehversuchen gedreht, um sie meinen Großeltern zu schicken, deshalb wusste ich, wie unbeholfen ich dabei aussah. Deshalb und weil immer alle so mitleidig guckten. Möglich, dass Grübchenface die grauen Augen vor Mitleid so weit aufgerissen hatte, aber bei ihr war es mir völlig egal.

Natürlich kam Mama sofort aus der Küche gerannt, als sie uns auf der Treppe hörte. »Du sollst doch nicht allein … ! Nicht so schnell … ! Quinn!« »Grüb … äh, Matilda und ich gehen ein bisschen spazieren«, teilte ich ihr mit. »Vielleicht kannst du ihr helfen, den Rollstuhl vor die Tür zu tragen.« Mama blinzelte überrascht. Haha, da staunte sie aber. Ich konnte mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Zwar hatte sie es bestimmt mal wieder gut gemeint, doch bei dieser Nummer mit Grübchenface war sie einfach zu weit gegangen. Ihre Gedanken konnte ich zwar nur erahnen, aber ich war ziemlich sicher, dass sie überzeugt war, ich hielte meine Freunde auf Abstand, weil ich mich für meine tollpatschigen Gehversuche und die Narben auf meinem Schädel schämte und mir die unkontrollierten Bewegungen, die meine Augen manchmal machten, peinlich wären. Grübchenface hatte sie spontan in mein Zimmer gelotst, damit ich jemanden zum Üben hatte, jemanden, der mir so egal war, dass es mir nichts ausmachte. Als Nächstes hätte sie wahrscheinlich dasselbe mit dem Paketboten versucht.

»Mit dem Rollstuhl komme ich schon zurecht.« Mit einem geschickten Griff löste Matilda die Bremsen und schob ihn zur Haustür. »Die Fußstützen brauchen wir draußen aber auch, oder?« Sie bückte sich nach den sperrigen Teilen, die Mama aus Platzgründen in der Garderobe abgestellt hatte, und ließ sie nacheinander mit routinierten Bewegungen in ihren Halterungen einrasten.

»Oh«, sagte Mama noch verblüffter. Sie hatte heute Morgen für den gleichen Vorgang einige Minuten und ziemlich viele Flüche gebraucht. Ich war auch ein bisschen beeindruckt. Das hätte der Paketbote sicher nicht gekonnt.

Während Matilda den Rollstuhl die Stufen bis zur Einfahrt hinunterschob, versuchte ich, meine Jacke vom Kleiderbügel zu ziehen, aber das Perfide an den Krücken war, dass man einfach keine Hand frei hatte. Mama erwachte aus ihrer Schockstarre und half mir. Prompt fühlte ich mich wieder wie ein Kindergartenkind. Tatsächlich bereitete mir so etwas Simples wie das Schließen eines Reißverschlusses immer noch Probleme.

»Wo geht ihr denn hin?«, wollte Mama wissen. »Nur ein bisschen frische Luft schnappen, das Leben will schließlich jeden Tag aus vollem Herzen gelebt werden«, antwortete ich schnell, bevor Grübchenface etwas über ein Mausoleum sagen konnte, für das ich mich interessierte. Aber Matilda überraschte mich, indem sie fast gleichzeitig »An der Ecke hat der neue Blumenladen eröffnet« murmelte. »Und die Schneeglöckchen blühen überall so schön.« Ja, genau, überall. Ich humpelte die Stufen hinunter, ließ mich in den Rollstuhl sinken und versuchte auszusehen wie jemand, der sich brennend für Schneeglöckchen interessierte. »Na, dann viel Spaß und bis gleich«, sagte Mama heiter, aber mich konnte sie nicht täuschen: Sie guckte genau wie damals an meinem ersten Schultag, als ich ohne sie ins Klassenzimmer gehen wollte. »Genießt die frische Luft. Ich kümmere mich mal weiter um den Rotkohl. Ihr habt ja das Handy dabei, falls was ist.« Mit einem tapferen Lächeln schloss sie die Haustür.

Matilda löste die Bremsen und schob mich Richtung Bürgersteig. »Ich habe das Gefühl, sie wäre gern mitgekommen, du auch?« Ja, arme Mama. Das letzte Mal, als ich ohne sie aus dem Haus gegangen war, hatte sie mich anschließend auf einer Intensivstation wiedergesehen. »Seit dem Unfall hat sie Probleme, mich aus den Augen zu lassen«, sagte ich. »Wir erzählen ihr deshalb besser nichts von Friedhof und Gräbern, das beunruhigt sie nur.«

»Verstehe.« Wir waren mittlerweile auf dem Bürgersteig angelangt und fuhren auf das Friedhofstor zu, so dicht an unserer Eibenhecke vorbei, dass Mama uns nicht sehen würde, falls sie aus dem Küchenfenster schaute. In der Hecke formten sich zwei Gesichter aus Eibennadeln, die erst einander und dann mich angrinsten. Ich tat so, als würde ich sie nicht bemerken.

Hinter uns rief jemand »Matilda?«, und Matilda entfuhr ein leises »Verdammt«, während sie das Tempo beschleunigte. Ich versuchte, so gut es ging, meinen Kopf zu drehen und an Matilda vorbei die Straße hinauf zu schauen. Dort winkte eine kringellockige Person wild mit den Armen. »Matilda? Matildaaaa!« »Du weißt schon, dass da jemand deinen Namen brüllt?«, sagte ich. »Einer von deinen Klonen.« Es war wirklich unheimlich, dass sie alle gleich aussahen. »Das ist nur meine Cousine Petze-Mariechen.« »Oh, was für ein hübscher christlicher Name.« »Ja, benannt nach der heiligen Petze …« Matilda fuhr mit Schwung durch das Friedhofstor und bog scharf rechts auf den geschotterten Seitenweg ein, der an unserem Garten vorbeiführte. Und am Grab von Hermann Kranz. Sofort war ich abgelenkt.

»Deine Tage sind gezählt.« Ich las es laut vor.

»Ich finde das ja den Lebenden gegenüber ziemlich unhöflich, so etwas auf einen Grabstein zu schreiben«, keuchte Matilda, während wir rasant nach links in einen breiteren Weg abbogen. Ganz kurz hatte ich das Gefühl, wir würden nur noch auf einem Reifen fahren. »Dahinten ist ein Grab, da steht es sogar noch direkter: ›Bald ruhest auch du.‹ Warum nicht gleich: Hier könnte Ihr Name stehen. Aber wer weiß? Vielleicht ist es ja eher motivierend gemeint, so nach dem Motto: Verschwende keine Zeit, genieß dein Leben, der Tod kommt früh genug, wofür ich der beste Beweis bin.«

Sie ging jetzt wieder langsamer, und der Rollstuhl hörte sofort auf, zu eiern und zu quietschen und sich überhaupt aufzuführen, als würde er jeden Moment auseinanderfallen. Für raues Gelände und Geschwindigkeit war er wohl nicht gebaut. Ich hingegen fühlte mich zwar durchgeschüttelt, aber auf seltsame Art belebt. Vielleicht lag es auch an der Sonne, die schon tief am Himmel stand und ihre wärmenden Strahlen durch die kahlen Äste der Alleebäume warf. In den letzten zwei Monaten hatte ich so gut wie kein Sonnenlicht gesehen.

»Ich glaube, wir haben sie abgehängt«, sagte Matilda. »Petze-Mariechen?«, fragte ich vergnügt. »Ja und diesen unheimlichen Typ, der schon den ganzen Nachmittag in der Straße rumlungert.« Was? »Welchen unheimlichen Typ?« Ich drehte hektisch den Kopf. »Hast du ihn nicht gesehen? Vorhin, als wir rauskamen, stand er vor dem Haus der Geigers, mit den Händen in den Manteltaschen. Und als ich mich eben umgeguckt habe, ging er in unsere Richtung.«

»Trug er einen Hut? Wie ein Opa mit Rauhaardackel?«

Matilda kicherte. »Genau, so einen hässlichen braun karierten Wollhut. Vielleicht ein Einbrecher, der die Häuser ausspioniert. Oder ein Spanner. Oder ein Privatdetektiv. Oder ein Spanner, der möchte, dass man ihn für einen Privatdetektiv hält.«

Oder etwas sehr viel Schlimmeres. Etwas, bei dem einem das Kichern verging. Ich konnte den Hutmann allerdings nirgendwo entdecken. Trotzdem hatte ich jetzt das Gefühl, jemand würde mich beobachten. Jemand mit gelben Wolfsaugen. Immerhin konnte er keine Halluzination sein, wenn Matilda ihn auch gesehen hatte.

»Wir sind da.« Sie wich einer Pfütze aus und blieb mitten auf dem Weg stehen. »Hier ist es: das Mausoleum der Familie König.« An dieser Stelle der Allee gab es gleich mehrere Mausoleen, die mit ihren Säulen und Giebeln wie kleine griechische Tempel aussahen, verwittert und bemoost. Das Mausoleum der Königs fiel architektonisch ein bisschen aus der Reihe, es wirkte wie ein überdimensionaler, nach oben schmaler werdender Torpfosten aus großen Steinquadern, in den man eine Tür eingelassen hatte. Die Tür wiederum war von zwei Säulen eingerahmt, die einen steinernen Giebel trugen, in den der Name König eingraviert war. Das ganze Bauwerk war reichlich mit Reliefs und Gravuren verziert, und obendrauf saß ein Engel, so groß wie ein Kind, der sich an einen Vogel mit einem Frauenkopf lehnte, dessen gewaltige Klauen sich am Sims festklammerten.

»Bitte schön. Die griesgrämige Vogelfrau. Sieht doch fast so aus wie auf deinem Bild.« Matilda schob mich noch ein Stückchen näher. »Nur die hier hat die Haare schöner. Eine richtig adrette Flechtfrisur aus Stein und Moos.« Ich starrte zu der Figur hinauf und hatte plötzlich wieder die hohen, schrillen Schreie aus der Unfallnacht im Ohr, während ich von Garagendach zu Garagendach gesprungen war.

Wut stieg in mir hoch. Welche Chancen hätte ich überhaupt gehabt, einem solchen Vieh zu entkommen? Heute hätten Hutmann und seine Monster ein noch viel leichteres Spiel mit mir – heute saß ich in meinem Rollstuhl fest. Dank ihnen. In dem Granitgesicht der Vogelfrau regte sich nichts, ganz gleich, wie grimmig ich sie auch anstarrte, dafür nahm ich rechts aus den Augenwinkeln eine Bewegung auf dem Nachbargrab wahr. Schnell wandte ich den Kopf zur Seite. Aber dort stand nur eine weitere lebensgroße Statue, ein Mann mit einem Zylinder, einem Monokel und einer Art Frack aus Bronze. Aus den Augenwinkeln hatte es so ausgesehen, als habe er seine Hand gehoben und mit dem Finger an die Hutkrempe getippt. Was er auch jetzt noch tat, völlig reglos. Natürlich völlig reglos, denn es handelte sich ja um eine Statue. Ich seufzte. Es reichte doch, dass Bäume und Hecken Gesichter hatten und sich lebendige Hutmänner in der Gegend herumtrieben. Noch einmal hielt ich nach ihm Ausschau. Aber alles sah ganz friedlich aus: Auf einer Bank ein paar Meter weiter saß ein alter Mann und las Zeitung, zwei Frauen kamen mit Kinderwagen vorbeispaziert, und unter der Bronzefigur mit dem Zylinder und dem Monokel scharrte eine Amsel in der Erde. Vielleicht waren es ja ihre Bewegungen gewesen, die ich aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte. Auf der Schulter der Figur befanden sich weiße Flecken, die sehr nach Vogelkacke aussahen.

»Möchtest du noch andere Gräber besichtigen?«, fragte Matilda. »Ich hätte noch einen sehr coolen Sensenmann zu bieten und einen Engel, der aussieht wie Angela Merkel.« Ich schaute noch einmal zu dem starren Vogelvieh hinauf und spürte, wie sich Enttäuschung in mir breitmachte. Gleichzeitig ärgerte ich mich über mich selber. Was genau hatte ich denn erwartet? Dass die Skulptur anfangen würde zu sprechen? Dass jemand eine Botschaft für mich … – Moment: Direkt unter dem Namen waren weitere, sehr viel kleinere Buchstaben eingraviert, die ich jetzt erst entdeckte. Vielleicht doch eine Botschaft? »Dum tempus habemus operemur bonum«, entzifferte ich mühsam. »Du hast nicht zufällig Latein, Grüb … Matilda?« »Nein, aber ein Smartphone«, sagte Matilda. »Es ist das Motto der Familie König.« Der alte Mann, der auf der Bank Zeitung gelesen hatte, war näher geschlendert und lächelte uns freundlich an. So alt war er aus der Nähe betrachtet noch gar nicht, es war wohl der Weihnachtsmannbart, der mich getäuscht hatte. Von dem weiß-grau melierten Bart und dem vollen Haar mal abgesehen hatte der Mann nichts von einem Weihnachtsmann an sich. Er war groß und schlank, trug einen eleganten grauen Wollmantel und einen zugeklappten Regenschirm, den er wie einen Spazierstock benutzte. Sein schmales Gesicht mit der langen, nach unten gebogenen Nase und den dunklen Augen unter buschigen Brauen kam mir auf eigenartige Weise bekannt vor.

»Wie erfrischend, junge Leute zu sehen, die sich für Gräberkunst interessieren.« Er tippte mit der Schirmspitze gegen die eingravierten Buchstaben. »Auf Deutsch: Lasst uns Gutes tun, solange noch Zeit ist.«

»Kalendersprüche habe ich eigentlich zu Hause genug«, murmelte ich enttäuscht. Der Mann drehte den Kopf zu mir. »Aber es ist ein ehrenwertes Motto, findest du nicht, Quinn?«, fragte er immer noch lächelnd. Ich spürte, wie sich mein ganzer Körper mit einer Gänsehaut überzog. »Haben die von Arensburgs auch ein Familienmotto?« Mein erster Impuls war, einfach wegzurennen. Aber erstens hätte ich nur lächerlich langsam davonrollen können, und zweitens war ich ja hierhergekommen, um mehr herauszufinden. Was auch immer. Also durfte ich mich nicht einschüchtern lassen, nur weil der Weihnachtsmann meinen Namen kannte. Ich richtete mich so gerade auf wie möglich und versuchte, nicht so ängstlich auszusehen, wie ich mich fühlte.

»Unser Familienmotto lautet: Geh nie im Streit zu Bett, iss viel Brokkoli und trau keinem Fremden«, sagte ich mit fester Stimme. »Kennen wir uns?« Wer zur Hölle sind Sie? Woher wissen Sie, wie ich heiße? Was wollen Sie von mir?

Die Lachfalten um die dunklen Augen vertieften sich. »Ach, entschuldige bitte, wie unhöflich von mir. Ich bin Professor Cassian«, sagte er und streckte mir seine Hand hin. »Ich kannte deinen Vater.«

»Meinen Vater?«, wiederholte ich, während ich nach der Hand des Mannes griff und sie mechanisch schüttelte. »Arbeiten Sie auch in seinem Verlag?«

»Ich meine deinen leiblichen Vater«, sagte Professor Cassian.

»Yuri Watanabe.

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